Die «Idiome» von Beatrix Sitter
Liver

Konrad Tobler

«Bin ich, weil ich denke? Oder bin ich, weil ich sehe, höre, taste, rieche und denke?» So fragt Beatrix Sitter-Liver zu Beginn ihres Aufsatzes «Pflanzen als Kunstpartner». Die Frage wirft die Frage nach dem In-der-Welt-Sein des Menschen auf. Darum kreist das Werk von Beatrix Sitter-Liver: um die Frage nach dem wahrnehmenden Subjekt, nach der Relation zu dem, was wahrgenommen wird, also letztlich darum, wie sich der Mensch zu seiner Umwelt, zu den Dingen, zur Natur verhält.

Das sind Fragen, die in der Zeit liegen, und insofern ist das Werk von Beatrix Sitter-Liver zeitgebunden und aktuell. Es ist jedoch nicht zeitbeschränkt, weil es in der malerischen und zeichnerischen Mimesis grundsätzliche Fragen der Wahrnehmung und des Umgangs mit der uns umgebenden Welt ins Bild setzt.

Das Werk zeugt von einem Bewusstwerden im Tun, von einer, wie das verkürzend zu bezeichnen wäre, praktischen, eben bildnerischen Philosophie.Sichtbar wird hier eine bestimmte Form des Sehens, die eben auch das Tasten, Bewegen, Riechen und Hören umfasst. Mit Paul Claudel könnte man sagen L’œil écoute, das Auge hört. Indem so das Sehen erweitert wird, wird auch das Sehen anders gesehen, sieht das Sehen anders.

Im Glossar der Bild-Philosophieder Universität Tübingen lese ich: «Die aufmerksamste und am intensivsten an einem Geschehen beteiligte visuelle Aktivität ist das Beobachten. [...]‹Beobachten› als eine aktive, sensomotorische Tätigkeit bezeichnet eine längere, aufmerksame, selektive und vor allem auf ein Ergebnis hin ausgerichtete Tätigkeit. Interessant ist hier der Zusammenhang mit dem aus dem 17. Jahrhundert stammenden Substantiv ‹Obacht›, das von ‹Acht› kommt und ‹Vorsicht› oder ‹Aufmerksamkeit› meint. [...] Betrachten [dagegen] ist ein Vorgang, der wie das Beobachten zwar ebenfalls längere Zeit benötigt, aber stärker als das aufmerksame, gespannte und ergebnisorientierte Beobachten in sich gekehrt ist und mit Überlegen, Einschätzen und Beurteilen zu tun hat. Betrachten hängt eng mit den lateinischen Verben ‹contemplari› und ‹considerare› zusammen, besitzt also eine deutlich kontemplativere und nachdenklichere Konnotation.»

Beatrix Sitter-Liver betrachtet vor allem – indem sie das Beobachten zulässt, aber nicht als zielgerichtetes Sehen, vielmehr im Sinn von Achtsamkeit, Sich-achten-auf, Achten-auf, Be-achten.Das macht das Spezifische dieses Werks aus.

Im Zusammenhang mit der Beobachtung verweist Beatrix Sitter-Liver

auf eine Wendung von Cees Nooteboom: dass Beobachten «eine Form der Liebe» sei. Das erinnert an eine Überlegung, die Theodor W. Adorno machte: Der Gegensatz zur herrschaftlichen Aneignung der Natur sei dieLiebe zu den Dingen.»

Wie kann sich das in Bildern äussern?

Etwa in der Werkgruppe der Idiome von Beatrix Sitter-Liver.Diese Werkgruppe ist Ausdruck einer Haltung, die mit einer Ethik der Pflanzen einhergeht. Nicht zufällig umschreibt die Künstlerin das mit der Wendung

«Pflanzen als Kunstpartner». Die Idee dafür entstand zufällig, wie Beatrix Sitter-Liver erzählt: Als sie einmal, es war 1993, im bündnerischen Flerden, ihrer ersten,ihrer Bergheimat ankam, hatte sie simpel und einfach die Pinsel vergessen. Ersatz war innützlicher Frist nicht zu beschaffen, also nahm die Künstlerin Grashalme, tauchte sie in Farbe, hatte aber beim Malen/Zeichnen darauf zu achten, wie sich die Halme verhielten.

Die Kunsthistorikerin Marie-Therese Bätschmann beschreibt das sehr genau: «Die Malarbeit mit Gras, einem Blütenstand oder einem Zweig ist schwierig. Die dünnen Stengel halten dem Zugriff einer festen, bestimmte Striche und Formen ausführenden Hand nicht Stand. Sie biegen sich und entweichen. Nur wer sich auf sie einlässt, den Druck zurücknimmt, ihn dem feinen Stengel behutsam anpasst, bringt die Spuren der sich bewegenden Pflanzen aufs Papier.»

Nur wer also darauf horcht, nur wer dem gehorcht, was die Pflanzen vermögen, vermag mit ihnen zu arbeiten. Wer sie zwingt, zerstört sie,

ohne sie benutzt zu haben, hat sie also abgerissen, ohne dass sie –einem Blumenstrauss vergleichbar – in neuer Form hätten in Erscheinung treten können.

Wie ein Herbarium mutet die Liste der Pflanzen an, die mit ihren jeweils verschiedenen Eigenschaften – eben Idiomen – Spuren auf dem Papier hinterlassen, eine Auswahl:

Pinus cembra – Arve

Larix – Lärche

Aesculus hippocastanum – Rosskastanie

Secale cereale – Roggen

Oryza sativa – Reis

Impatiens nolitangere – Rührmichnichtan (sic!)

Für die „Idiome“ die Pflanzen suchen, die Pflanzen pflücken: Rührmichdochan, aber behutsam.

Das Auge ist auch Berührung, das Sehen, der Blick, ist ein poetischer Akt, für den Maurice Merleau-Ponty einen Schlüsselbegriff hat: dessiner, das Zeichnen, Nach-Zeichnen.

Es ist das, was im Tanz und in der Bewegung der malenden/zeichnenden Arme, Hände und Finger, aber eben auch der ständig unruhigen Augen körperlich zum Ausdruck kommt, sichtbar wird. Merleau-Ponty spricht von «verborgenen Kräften» zwischen dem Wahrnehmenden und den Dingen, von einer «ganzen Vegetation möglicher Phantasien“. So fragil der Blick von Beatrix Sitter-Liver ist,

so fragil sind die Bilder, die „Idiome“. Die Idiome sind die eigentümliche Sprache jeder Pflanze, die die Künstlerin malend/zeichnend zu verstehen versucht.